11. Mai 2011

Der Gruß

In meiner ehemaligen Firma war es üblich, sich zu grüßen, sogar zu duzen. Klar, Kollegen sind füreinander potentiell relevante Personen und die meisten von ihnen kennt man schon. Also sollte man sich nett geben.
"Hi".
"Hallo".
Das reicht. Zum Glück keinerlei zeitraubende Folgekommunikation, obwohl ein Gruß oft das Startsignal für weiterführende Gespräche ist. Hm, was soll dieser fast schon schematische Wechsel von Begrüßungsfloskeln?

Dieser kürzeste aller mündlichen Dialoge soll meines Erachtens den Beteiligten signalisieren: "Ich habe Dich wahrgenommen". Ehrerbietung wird ausgedrückt. Ich erhalte quasi den Nachweis, gesehen worden zu sein. Gut, ein beidseitiges Nicken erreicht dasselbe. Nun weiß ich, ich bin sozial existent, ich lebe noch! Ob meine Anwesenheit  akzeptiert wird, kann ich hingegen daraus noch nicht ablesen. Wir könnten diese Startsequenz auch weglassen und gleich mit der Tür ins Haus fallen, aber anscheinend brauchen wir einen Prolog, um uns auf einen verbalen Schlagabtausch einzustellen.

Es gab aber schon Situationen auf dem Bürogang, in denen mein nicht überhörbarer Gruß nicht erwidert wurde. Ich blieb verdattert zurück, fast beleidigt. Mein Gegenüber wollte nicht reagieren, schaute absichtlich vorbei, obwohl ich sichtbar und knapp an ihm vorüberlief. Wen man nicht bemerkt, den braucht man nicht zu grüßen. Als käme Gruß von Gruseln. Ein Recht auf Antwort habe ich anscheinend nicht.

Diese Erfahrung des Anschweigens und gezielten Übersehens hat mich zum Nachdenken gebracht. Zwar ist es eine Normverletzung, den anderen nicht zu berücksichtigen, aber es bedeutet keinerlei Verlust von irgendetwas (höchstens der Menschenwürde). Wenn man keinen Kontakt wünscht, aus welchen Gründen auch immer, vermeidet man einfach jegliches Signal. Das Grüßen kostet Aufmerksamkeit (Sinnesarbeit), Gehirnaktivität. Wozu einem fremden Kollegen bzw. Mitmenschen Respekt zollen, mit dem man nichts zu tun hat?! Wäre das nicht sinnlos, ja, albern? Ich merkte mir diese Leute, die mich ignorierten und grüßte sie beim nächsten Mal auch nicht. Es fühlte sich komisch an, war irgendwie unangenehm, doch es ging! Erst recht bei denen, die ich nicht mochte, aber dennoch bisher nicht missachtete.

Auch auf Wanderungen grüßen sich die einander Begegnenden gern, aber das hat ebenso nachgelassen. Und wenn ich auf der Straße jeden Entgegenkommenden grüßen würde, wäre ich am Abend heiser. Irgendwo liegt die Grenze. Demonstriertes Desinteresse (Missachtung?) scheint ehrlicher als pflichtbewußtes Grüßen zu sein. Soziale Kälte lässt sich gut an dieser Kontaktvermeidung ablesen, wobei das Ignorieren auch anstrengend sein kann und natürlich auffällt. Wir sind dazu übergegangen, nur bekannte Menschen zu grüßen, als Zeichen der Verbundenheit. Unbekannte mögen bitte unerkannt vorbeigehen. Höflichkeit hat anscheinend keinen großen Wert mehr bei den jüngeren Generationen; von der kann man sich zugegebenermaßen nichts kaufen.

Ich grüße weiterhin gern, weil ich humanistisch geprägt bin, doch der Automatismus ist gestört: Ich laufe nicht gern ins Leere mit meiner Geste des "Ich sehe Dich".

PS: Im Fechten ist der Gruß besonders ritualisiert und umfangreich. Hier grüßt man vor und nach dem Gefecht mit der Waffe erst den Gegner, dann den Obmann und zuletzt die (virtuellen) Zuschauer.

3 Kommentare:

  1. Hallo,

    hierzu habe ich eine höchstinteressante Erfahrung machen dürfen. Bei meinem letzten Besuch in Chicago (war zu einem Fechtturnier dort), hatte ich das Bedürfnis bereits vor dem Frühstück eine Zigarette zu inhalieren. ALso ging ich in den 200 Meter entfernten Park und steckte mir eine an. Plötzlich kommen 2 Reinigunsgräfte an mir vorbei, schauten mir direkt ins Gesicht "good morning" mit einem freundlichen lächeln auf den Lippen.

    Zurück vorm Hotel wartete mein Sohn auf mich. Gemeinsam gehen wir in das Hotel und von der Rezeption ein freundliches "hey guys".

    Nun zu meinem Erstaunen. Die Reinigungskräfte aus dem Park kannten mich nicht, ich habe diesen mit meinem Zigarettenstummel Arbeit bereitet und trozdem werde ich freundlich gerüßt ohne das man mich kennt. Die Hotelfachfrau hinter der Rezeption hingegen wußte sicher, das ich ein Erwachsener Mensch (42) bin und dennoch ein für uns lapidares "hey guys".

    Übertriebener Americanismus oder einfach nur dem Gegenüber Respekt zollen?

    Dein Satz
    "Ich grüße weiterhin gern, weil ich humanistisch geprägt bin, doch der Automatismus ist gestört: Ich laufe nicht gern ins Leere mit meiner Geste des "Ich sehe Dich"."

    Soweit klar definiert, aber ist es nicht eher eine Frage der Erziehung anstatt einer perönlichen Prägung ?

    Am peinlichsten finde ich in meiner Umgebung, wenn Tante Heidi zu Besuch kommt, das einige meiner Geschwister "Hallo Heidi" sagen und ich immer noch " Hallo Tante Heidi". Berreits hier sehe ich das der Respekt der anderen Person gegenüber nicht so sit wie er sein sollte.

    Vielleicht sollten wir uns an anderen Kulturen ein Beispiel nehmen und einen Apell an alle Erziehenden erlassen.

    Bringt Euren Nacchkommen bei das jeder Mensch egal welcher Art und Klasse den gleichen Respekt verdient wie ihr ihn selbst verdienen wollt.

    AntwortenLöschen
  2. Hallo Enrico,

    danke für deinen Kommentar.

    Schon komisch, von Fremden kumpelhaft begrüßt zu werden! Ich habe von anderen Leuten über die amerikanischen Sitten ähnliches gehört. Sie grüßen anscheinend jeden gern.

    Ich finde auch, es ist eine Sache der Erziehung, also dem Erlernen sozialer Gepflogenheiten. Die "persönliche Prägung" ist eine Folge der genossenen Sozialisation. Die Anwendung der Normen ist dann jedoch auch eine Kalkulation bzw. Willensentscheidung, auf die jeweilige Situation bezogen. Man kennt die Norm des Begrüßens, aber ist frei darin, den Gruß zu unterlassen. Es kommt drauf an, was man sich davon verspricht. Das absichtsvolle Ignorieren/Übersehen des Gegenübers ist ein Verhalten, das viel aussagt über den Bezug (Haltung) zum konkreten Gegenüber. Ich frage mich, was mir reine Höflichkeit des anderen mir gegenüber überhaupt bedeutet. Erzwungener Respekt wirkt schal. Wer nicht grüßt, hat ihre Gründe. Es ist dann gut zu wissen, dass er/sie mich nicht mag oder nicht braucht.

    Ich war immer irgendwie ein Gegner des Siezens, dabei ist es eine gute Art der Distanzierung. Das Du hebt man sich für Vertraute auf, dabei sind eigentliche alle Menschen gleich wert (sitzen im gleichen Boot) und wäre ein direktes Duzen angebracht.

    Ich bin als Kind fast ohne Vornamen aufgewachsen: die Eltern und Verwandten wurden meist mit ihren "Rollentiteln" plus eventuell den Nachnamen angesprochen ("Oma Rahde"). Später, im Erwachsenenzustand, fand ich das falsch. Ich getraute mich Stück für Stück, meine Eltern mit Vornamen zu rufen, da sie mich auch seit der Geburt mit "Frank" statt "Sohn" ansprachen. Es war und ist immer noch ungewohnt, obwohl es der erreichten Augenhöhe entspricht.

    Was Du aufwirfst, ist eine moralische Frage, die ich mir nicht gestellt habe.

    Gruß, Frank

    AntwortenLöschen