13. Mai 2011

Der Schuss

Gunter Sachs erschoss sich wegen des Eindrucks beginnenden Alzheimers, also aufgrund seiner unsicheren Selbstdiagnose. So, wie ich den Abschiedsbrief verstehe, lehnte er die Krankheit ab, er wollte sich ihr nicht beugen. Diese Krankheit mit ihren Konventionen durfte sein restliches Leben nicht bestimmen. Ich symphatisiere mit seiner Ansicht, vor der Auflösung des sozialen Selbstes lieber einen Schlussstrich zu ziehen. Wenn ich "Gott" wäre, würde ich Alzheimer als Sterbeform abschaffen, weil totaler Gedächtnisverlust bzw. umfassendes Vergessen des Erlebten nicht zum Leben passt. Ich würde die Menschen vorher (!) aus dem Diesseits abberufen und zwar urplötzlich, wie die Geburt (= Herausschlüpfen aus der Gebärmutter und Losschreien).

Seltsame Symmetrie des Werdens und Vergehens in der Zeit: sowohl die ersten als auch die letzten Lebensjahre sind wir nicht voll da, nicht souverän. Es macht meiner Meinung nach keinen Sinn, im hohen Alter über Jahre hinweg wieder so hilflos, schwach und dumm zu werden, wie es während der Phase der Kindheit war. Ein Schuss, der blitzschnell per Fingerkrümmung ausgelöst ist, beendet hier im Optimalfall sofort das Dilemma. Aber woher kommt die Kraft, diesen Schuss zu wagen und sich das Leben zu nehmen?! Als jemand, der noch keine echten Selbsttötungsgedanken verspürt hat, kann ich mir diese Ausnahmesituation, in der mein Lebenswille versagt und ich mich sogar auf die Erlösung vom Leiden freut, nicht wirklich vorstellen. Der Schuss ist absichtlich von Sachs abgefeuert worden und doch war sein Abgang nicht freiwillig. Wenn es diese beängstigende, unheilbare Krankheit als Bedrohung nicht gegeben hätte, hätte Sachs sein Leben bestimmt gern fortgesetzt. Wie kommt es, dass eine solche Krankheit in ihrem Verlauf schlimmer erscheint als der Tod?!

Sterben als längerer Weg des Siechtums und Verfalls trifft nicht alle Menschen gleich, während der Tod demokratisch ist. Die einen sind laut Todesanzeigen "überraschend gestorben", die anderen starben nach einer "langen, schweren Krankheit". Was soll das?! Es gibt wohl nichts Fieseres als die zuanfangs bewusst erlebte Auslöschung des Geistes, die dann auch den Körper einschließt. Sich erschießen ist dann die Vorwegnahme des sich zierenden Todes, das Umgehen des Vorspiels "Sterben", ein Stinkefinger gegenüber dem "Sterbefehler", der da lautet: Verurteilung zur langatmigen Degeneration trotz Unschuld.

Was ist der Preis für das Leben: das Sterben oder der Tod?!

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