29. April 2011

Loch im Wortschatz: die "Entkinderten"

Manchmal fehlen uns Worte, weil sie nicht Teil unseres Wortschatzes sind. Sollte uns dies davon abhalten, fehlende Worte für bedeutsame Dinge auszudenken?! Nein, natürlich nicht, doch es ist ein langer und unwägbarer Prozess, bis eine privat gewählte Bezeichnung (Label) in den "semantischen Apparat" einer Gesellschaft einsickert und allgemein anerkannt wird.

Ein Hungriger, der sich den Bauch vollgeschlagen hat, ist "satt" geworden. Wir kennen dieses Etikett. Ist ein Durstiger, der viel Wasser getrunken hat, auch "satt"?! Steht "satt" für beide Entspannungszustände zugleich?! "Ich habe mich satt getrunken" klingt ungewohnt, ich habe es noch keinen Mitmenschen sagen hören. Ich fand die Situation unbefriedigend und suchte nach passenden Worten: Jemand, der seinen Durst gelöscht hat, ist "getränkt" bzw. "gestillt". Klingt irgendwie logisch: Nach dem Trinken ist man getränkt (oder werden nur Pferde getränkt?) und still (wie Babys an der Brust). Ich wagte sogar mal die Wortkreation "sutt", wobei der Buchstabe "u" in "Durst" vorkommt und "sutt" dem "satt" ähnlich wäre.


Anderes Beispiel: Ich dachte immer, das Stück "-man-" in "jemand" käme von "mann". Ich fand das Fehlen eines weiblichen Pendant als Mangel, denn wenn ich in meinem Tagebuch von einer unbekannten Frau schrieb, wollte ich mit einem einzigen Wort schon das Geschlecht andeuten. Daher führte ich aus Spaß "jefraud" in meinen privaten Wortschatz ein. Das Wort sah komisch aus und klang natürlich fremd. Für meine Zwecke reichte es. Als mich eine Bekannte darüber aufklärte, dass "je-man-d" sächlich gemeint ist, also beide Geschlechter einbezieht, ließ ich von diesem Wort wieder ab. Es hätte keine Chance gehabt, von anderen aufgegriffen und weiterverbreitet zu werden.

Einer Episode der amerikanischen Fernsehserie "Emergency Room" (15. Staffel), die ich gestern anschaute, verdanke ich folgenden interessanten Hinweis: Für einen Menschen, dessen Ehepartner gestorben ist, haben wir das Label "Witwe/r"; für Kinder, deren beide Elternteile nicht mehr leben, kennen wir das Label "Waise", aber für Eltern, die ihr Kind verloren haben, gibt es keine derartige eigenständige Bezeichnung. Kaum zu glauben, gibt es doch Betroffene zuhauf, die den Bedarf hätten, ihren dauerhaften Verlust in ein Wort zu gießen! Keine Wort-Idee?! Es kann nicht daran liegen, dachte ich, dass früher die Elterngeneration fast immer vor der Nachwuchsgeneration aus dem Leben schied. Die Kindersterblichkeit war damals bekanntlich viel höher als heutzutage. Vielleicht lehnen die Eltern für den Verlust ihrer Nachkommen eine sachliche Kategorie einfach ab, vielleicht soll die Tragik unaussprechlich bleiben oder vielleicht hat der vorzeitige Tod der eigenen Kinder keine so starken kollektiven Folgen, das er direkt betitelt werden müsste, um über ihn öffentlich reden zu können. Mir fielen nur Verlegenheitslösungen ein: Die "Entkinderten" (Eltern) trauern um die "Vorzeitigen" bzw. "Frühabgänger" (Kinder).

Leibliche Eltern lassen sich nicht ersetzen, zusätzliche Kinder sehr wohl zum Trost gebären. Ist es dieser Unterschied in der Tragweite, der über Wort oder Nicht-Wort entscheidet, der Labels wie "Jungfer", "Ungeborenes" oder "Kinderlose" in die Welt setzte, aber kein Label für die Kinder-Einbüßenden bereithält?!

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