23. August 2011

Liebe, Teil 4 - Liebe als Emotion

Eine Minderheit der Soziologenschaft steht auf dem Standpunkt, Liebe sei die Emotion der Zuneigung. Klingt womöglich einfach und einleuchtend, ist es aber nicht, da die Soziologie speziell das im Blick hat, was sozial und kulturell auffällig ist, also beobachtbar, beschreibbar, messbar ist - und das sind Prozesse und Strukturen der Lebenswelt, sind Situationen, Erleben, Handeln, Interaktionen, Beziehungen, Institutionen, Wissensbestände. Ein Soziologe nimmt Abstand von geistigen oder biologischen Effekten. Das, was im Bewusstsein passiert, wird der Psychologie als Feld überlassen. Ich möchte hier als knappen Einstieg zwei Soziologen zitieren, die das Emotionale an der Liebe hervorheben, ohne ihre Sichtweise zunächst zu kommentieren.

Schon Georg Simmel (1858-1918), ein Klassiker in der Soziologe und nicht zu verwechseln mit dem Romancier Mario Simmel, versuchte, Liebe als Gefühl zu definieren. Er verstand die Liebe als einen "seelischen Akt", ein "inneres Verhalten", ein "subjektives Gerichtetsein", als "Streckung des einen Subjekts zum anderen", als eine eigentümliche "Beziehung des Subjekts zu einem Objekt", als "dasjenige Gefühl, das ... enger und unbedingter als irgend ein anderes an seinen Gegenstand geknüpft ist". Mit Gegenstand meint er den Geliebten als "besonderes Gebilde". Nach Simmel schaffe Liebe ihren Gegenstand als ein "originäres einheitliches Gebilde, das vorher nicht bestand", sie bestimme den Geliebten in seinem ganzen und letzten Wesen und seiner "kategorischen Bedeutung". Diese Sicht auf die Liebe klingt noch ziemlich ontologisch und schwammig, also unsoziologisch. Sie interpretiert Liebe verkürzt als rein psychisches Phänomen, gestaltend und unvermittelt, als ein absolut innerliches Gefühl, das an ein Objekt geknüpft wird, sich exklusiv ereignet und dazu führt, dass der Liebende sich sein spezielles, individuelles Bild vom Geliebten formt, das vom Fremdbild abweichen kann.

Jürgen Gerhards (geb. 1955) sieht wie Simmel in der Liebe eine "emotionale Zugewandtheit", kann es aber konkretisieren. Was ist das Charakteristische einer Emotion? Er versteht unter Emotion eine innere "Befindlichkeit", ein "in etwas involviert sein", eine "Form des Erlebens", einen bestimmten "Modus der Konstruktion sozialer Wirklichkeit". "Emotionen sind eine positive oder negative Erlebnisart des Subjektes, eine subjektive Gefühlslage, die als angenehm oder unangenehm empfunden wird. ... Emotionen entstehen als Antwort auf eine Bewertung von [externen - F.R.] Stimuli und Situationen; sie können mit einer physiologischen Erregung einhergehen und können in Form von Emotionsexpressionen zum Ausdruck gebracht werden..." Für Gerhards weist Liebe die typischen Orientierungsmerkmale von Emotionen auf: "simultan, partikular, diffus, qualitativ". Er bricht diese Merkmale nicht auf die Liebe als Beispiel herunter. Gemeint haben dürfte er: jemand, der liebt, erfasst den Geliebten flächendeckend und blitzschnell als Gesamtperson, erachtet - sich selbst beschränkend - nur ihn persönlich als höchstrelevant für die eigenen Belange, konzentriert sich auf dessen Individualität (Einzigartigkeit) und erlebt den anderen in seinen Eigenschaften als wirkungsmächtig.

Gerhards geht noch einen Schritt weiter: Durch Liebe werde eine spezifische Beziehungskonstruktion geleistet, nämlich ein fiktiver Konsens zwischen den Partnern hergestellt. Er spricht von Liebe als einer "Form des wechselseitigen Kreditgebens, die vorhandenen Dissenz unsichtbar macht". Und ich füge hinzu: Wir alle sind psychisch gesehen Großbaustellen, die für sich Restauratoren suchen - und das sind die Geliebten. Grundlos kommen wir nicht körperlich zueinander und gehen gar eine Zweierbeziehung ein, in der wir unsere Handlungsorientierungen aneinander ausrichten. Es gibt Motive und Interessen, die uns veranlassen, uns näher kennenzulernen, Intimität und Passung aufzubauen, den anderen komplett/dauerhaft in seiner Subjektivität und Individualität zu beachten, zu bestätigen bzw. komplizenhaft zu betreuen. Da wären sexuelle Lust, Bedürfnis des Verstandenwerden, Identitätsstifung oder - anerkennung, Familiengründung usw.

Meine Blogbeiträge zum Thema Liebe sind ein Vortasten, das die Leser mitverfolgen können. Ich habe keine Doktorarbeit in der Tasche, sondern ich bilde erst meinen wissenschaftlichen Standpunkt, der nicht leicht zu finden ist in der riesigen Fülle an Theorieangeboten und empirischen Studien und der auch noch nicht ganz gefestigt ist.

--wird fortgesetzt--

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